«Festtage» lautet der Titel der Ausstellung. Festtage, das sind Tage des Festes und der Freude, aber auch die des Festlegens, des Festhaltens, des sich Bindens und des Entscheidens. Die Brautporträts, deren Vorlagen die Künstlerin aus alten Zeitschriften für Brautfrisuren und -gestecke entnommen hat, erforschen die Ambivalenz der Situation. Der Tag der Trauung, dem das Klischee absoluten Glücks anhaftet, ist auch immer mit einer gewissen Wehmut und Melancholie verbunden. Die übergroßen gestickten Bildobjekte, diese präzisen und doch verwirrenden Fadenzeichnungen in reduzierter Form und Farbigkeit, spüren der zwiespältigen Gefühlslage nach.
Kleidung, Person und Umraum verschmelzen zu einer Einheit. Lediglich die fein nuancierte Farbigkeit der Stickfäden lässt das Motiv nach einiger Zeit der Betrachtung innerhalb des Fadengeflechtes erkennbar werden.
Martina Ziegenthaler löst die Kleidung und die Accessoires von ihrer vordergründig schmückenden Aufgabe, sie entfernt sie aus ihrem ehemaligen Kontext, entrümpelt und reduziert sie formal, um ihnen Raum für eigene Geschichten zu geben.
Sie schafft die vielfältigsten Kunstwerke aus Stoffen, und zwar mit Hilfe von Applikationen, Stickereien, Näh- und Drucktechniken. Ihre Bildfindungen setzt die Künstlerin mit eher ungewöhnlichen textilen Materialien um: Diolenwatte, Seidenorganza, Satin und Tüll. Dabei geht es ihr nicht um das Textil an sich, sondern vielmehr um dessen spezifische Eigenschaften wie Flexibilität, Durchlässigkeit, Anpassungsfähigkeit und Transparenz, aber vor allem auch um Weichheit und Geschmeidigkeit sowie Glanz oder Stumpfheit der Oberfläche. Ihre Arbeiten, hintersinnig und voller poetischer Kraft, verführen die Besucher und wecken eine Sehnsucht nach Berührung dieser zarten Gebilde.
Martina Sutter-Kress M.A.
Zu den Arbeiten von Martina Ziegenthaler
„Morgenhäubchen lassen sich sehr gut aus allerhand Seiden- oder Batistresten herstellen, und halbvergessene Restchen von Stickerei oder Spitze können hier fröhliche Auferstehung feiern. Solch ein Morgenhäubchen zu nähen und auszuputzen ist wie eine lustige, mühelose Handarbeit, die viel Freude macht.“
Die vermeintlich freudvoll-mühelose Leichtigkeit, von der im Zitat aus „Beyers Großes Lehrbuch der Wäsche“ von 1927 die Rede ist und das sich auf die eigens für diese Ausstellung hergestellten gigantischen Häubchen bezieht, ist ein wesentlicher Aspekt im Werk von Martina Ziegenthaler. Die Künstlerin und ihre Arbeiten jedoch auf diese arglos-zwiespältige, angeblich erfreuliche Vordergründigkeit festzulegen hieße, sich einen sowohl genüsslichen wie auch aufschlussreichen Rundgang durch gedankliche wie materielle Vielschichtigkeiten, textile wie soziale Verstrickungen entgehen zu lassen.
Schon früh rührt sich Martina Ziegenthalers Interesse am Textilen. Auf eine Schneiderlehre folgt die Ausbildung zur Direktrice und dann als erste berufliche Tätigkeit das Entwerfen und Anfertigen von Schnitten für Bademoden. Der Übergang vom Modedesign zur Kunst gelingt ihr durch das Studium an der Kunstakademie Nürnberg von 1993 bis 1999 bei Prof. Hanns Herpich, dessen Meisterschülerin sie wird.
Sehweisen und Bedeutungen von Bekleidung und Accessoires untersucht sie auf ihre Funktion in menschlichen und sozialen Bezügen. Sehgewohnheiten bei textilen Mustern oder Formen stellt sie auf den Prüfstand, indem sie mit solchen zum Beispiel durch die Übertragung von Tischdeckenmustern auf Badvorleger irritiert. Sie entblößt sie ihrer vordergründig schmückenden Aufgaben und entrümpelt sie, um für eigene Geschichten Raum zu schaffen. Dabei bleibt sie der Welt der textilen Materialien und Techniken treu, schafft sich jedoch ein eigenes Vokabular und Handwerkszeug.
Zum Verständnis ihrer Arbeit sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich Martina Ziegenthaler zwar textiler Materialien, handwerklicher und industrieller Textiltechniken bedient, sich jedoch selbst nicht als Textil-, sondern Objektkünstlerin bezeichnet. Ihre Tätigkeit schließt gewebebildende Techniken wie Filzen, Weben oder Wirk- und Maschenwarenherstellung aus, sie bedient sich ausschließlich stoffveredelnder und -verarbeitender Techniken wie Applikation, Nähtechnik, Stickerei und Textildruck. Diese dienen ihr zur Umsetzung ihrer Bilder, Objekte und Installationen. Nicht die Verwendung textiler Materialien ist ihr ein Anliegen, sondern die Qualität der Arbeit als solche.
„Meine Objekte entlarven auf ironische Weise den Versuch, sich durch Ordnung und Dekoration des Alltäglichen im Leben häuslich einzurichten“, charakterisiert Martina Ziegenthaler den Inhalt vieler ihrer Arbeiten. Dies ist besonders anschaulich am Verhältnis des oben genannten Zitats zu den gigantischen, raumgreifenden Häubchen zu erkennen. Indem sie ihnen wie Kleidern die Bewegung nimmt, Rüschen und Schleier, ohne ein menschliches Gesicht zu rahmen, von selbst wirken müssen, werden die Hauben zu eigenständigen, raumgreifenden Skulpturen.
Úhre Themenwahl ergibt sich aus der Beobachtung menschlicher Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Rollenverhältnisse. Bei der Serie „weißer Sonntag“ waren frühe persönliche Erfahrungen Ausgangspunkt, bei anderen Arbeiten sind es Wortspiele oder Bilder, die sie aus allen denkbaren Medien aufnimmt. Dabei kann es sich um alte Modezeichnungen, Gesellschaftsspielebücher der 1960er Jahre, Wohnzeitschriften der 1950er, Bestellkataloge für Kommunion-und Taufkleidung aus dem Internet sowie Aufnahmen aus dem Fernsehen handeln. Diese Vorlagen werden durch Abstrahierung und Überarbeitung auf stilisierte, grafische Vorlagen reduziert. Martina Ziegenthaler denkt und arbeitet in Serien, die sie von der konkreten, wieder-erkennbaren Gestalt über immer reduziertere Formen zu scheinbar abstrakten Kompositionen führen. Schlüsselbilder mit Wiedererkennungscharakter sind leicht zu finden, vermeintlich abstrakte Motive sind ohne Kenntnis dieser jedoch nicht lesbar. Dieser Prozess wird von Überlegungen über und Versuchen zur materiellen und technischen Übertragung begleitet.
Nicht „aus allerhand Seiden- und Batistresten“ setzt die Künstlerin diese Bilder um, sondern aus Materialien und Techniken, die sie präzise recherchiert hat. Die Materialwahl wird nicht nur vor dem Hintergrund der ästhetischen Wirkung getroffen, sondern auch vor dem einer möglichen Verarbeitung: Kunstleder und Filz fransen nicht aus!
Bei der 2003 entstandenen Serie „minicare“ wurden Bilder taschentragender Frauen aus Modezeitschriften der 1960er Jahre übernommen, abstrahiert, aus Kunstleder ausgeschnitten, zu Bildern vernäht und auf Keilrahmen aufgezogen. Bei einigen Arbeiten ist anhand der scherenschnittartigen Umrissfragmente der Personen noch zu erkennen, ob sie Abend-, Akten-, Einkaufs- oder andere Taschen lässig unter dem Arm geklemmt halten, bugsieren, schleppen oder einfach nur tragen. Bei den abstrakt wirkenden Kompositionen erzählen Farbigkeit, Form und Verarbeitung des verwendeten Kunstleders Geschichten, die sich erst mit dem Blick auf die ganze Serie erschließen: Mögen die flüchtigen Alltagsaugenblicke auch zu gegenstandslosen Bildern erstarren, die menschlichen Haltungen, durch die Gebärden des Tragens angedeutet, bleiben dennoch beim Betrachter haften.
Die Farbgebung korrespondiert weder mit dem Inhalt der Arbeiten, noch will sie eine mögliche naturalistische Wiedergabe unterstützen. In Ihrer Wirkung gemahnt sie eher an mittlerweile wieder trendige Oberbekleidungsmaterialien der 1960er Jahre. Stärker als die Farbe bestimmen in den Bildern Martina Ziegenthalers Reflexionsverhalten, Glanz- und Transparenzgrad, Dehnbarkeit und Eigenstruktur des textilen Materials in seiner technischen Verarbeitung die Wirkung. So können Schichten farbiger, semitransparenter oder -luzenter, unterschiedlicher Stoffe und anderer Materialien zu differenzierten Farbschichtungen von hoher Delikatesse mit interferierender Tiefenwirkung zusammenspielen.
Aus einem Bestellkatalog für Tauf- und Kommunionkleider bezieht die Serie „weißer Sonntag“ laut Brockhaus von 1906 auch Quasimodogeniti, lat. „wie neu geboren“ ihren Titel und die Bildvorlagen. An diesem ersten Sonntag nach Ostern wird traditionellerweise die Erst-kommunion gefeiert. Früher trugen die Mädchen dazu aufwändige, weißen Brautkleidern ähnliche Gewänder. Vor dem Hintergrund eines katholischen Umfelds erklärt der Titel der 2002 entstandenen Serie die einzelnen Bildobjekte: Auf Diolenwatte oder Wattine sind aus Seidenorganza Silhouetten und Details solcher Kleider oder mit solchen Kleidern geschmückte Figuren aufgeklebt. Die Schichtung der unterschiedlich reagierenden und transparenten Materialien in ihrer Verarbeitung führt zu üppigen, vielschichtigen und durch die Überlagerungender Materialien farblich gedämpften Strukturen sowohl konturlos und nachgebend wie präzise und fassbar. Sie erinnern an den Wandel oder das Verschwinden solcher Traditionen, an den spektakulären Aufwand bei der Herstellung der Kleidungsstücke, aber auch an fingerdrohende Ermahnungen an die Trägerinnen. Wiederum treibt hier die Künstlerin ein spannendes Spiel mit den unterschiedlichen Bildebenen: Die Arbeit erinnert an verblichene Familienfotos oder an Fragmente solcher historischer Gewänder, deren Vergänglichkeit und Anfälligkeit mit der besonderen Anziehung der verwendeten Textilien korrespondiert.
Fotografische Vorlagen aus Frauenzeitschriften der 1950er Jahre regten zu der 2001 entstandenen Bilderserie „50 qm“ an. Der Titel bezieht sich dabei auf die aus heutiger Sicht spärlich erscheinende Grundfläche einer Zwei-Zimmer-Standard-Wohnung der Nachkriegszeit. Die gezeigten Einzelpersonen oder Figurengruppen, aber auch einzelne Gliedmaße, Kleidungsstücke oder Accessoires sind auf einen Ausschnitt, eine Momentaufnahme, ein Detail reduziert, entsprechend zweidimensionaler Formen eines Scherenschnitts. Sie demonstrieren plakativ einfachste Verrichtungen wie das Heben einer Teekanne, Ausziehen eine Rocks oder Abstreifen eines Schuhs, Zusammenstehen, sich Anlehnen oder Aufstützen, aber auch Misshandeln.
Durch den Zusammenhang in der Serie mit Konstellationen, die durchaus zwiespältiges Verhalten bis hin zur Andeutung von Gewalt demonstrieren, geraten auch arglose Gesten in einen Strudel angedeuteter Verunsicherung und Bedrohung. Der heile Welt und soziale Enge implizierende Titel „50qm“ wird verstrickt mit der scherenschnitthaften Präsenz von Bekleidung oder Accessoires, die im konkreten Fall und mit einem Mal über Gewohnheit und Schutz hinaus auch Verkleiden und Bloßstellen, vermeintliche männliche Stärke und weibliche Schwäche, Aufhebung und Verlust gesellschaflicher Konventionen einbezieht.
Erstaunlich, wie Martina Ziegenthaler in der Lage ist, Zusammenhänge dieser Bandbreite „zu nähen und auszuputzen …wie eine lustige, mühelose Handarbeit, die viel Freude macht“.
Karl Höing
66,5° knapp, klar und präzise klingt der Titel, mit dem die Künstlerinnen ihr gemeinsames Projekt in der Orgelfabrik Durlach überschrieben haben. 66,5° was verbirgt sich hinter dieser exakten mathematischen Maßangabe? Gemeint ist der Winkel, den die Erdachse mit der Erdbahnebene einschließt und der sich auch bei der Umkreisung der Erde um die Sonne nicht ändert. Es ist der dadurch bedingte, sich im Jahresverlauf stetig ändernde Einfallswinkel der Sonnenstrahlen auf die nördliche und die südliche Erdhalbkugel, der unser Leben seit Menschengedenken maßgeblich prägt. Der Wechsel der Jahreszeiten wird auf diese Weise ebenso festgelegt wie die jahreszeitlich differierenden Längen von Tag und Nacht. 66,5° diese nüchterne Maßangabe ist somit letztendlich als Synonym für unseren von außen vorgegebenen Lebensrhythmus anzusehen, für den immer wiederkehrenden Kreislauf der Natur ebenso wie für Werden und Vergehen allen Lebens. In ihren Installationen “was Brauch ich noch?” und “Nachtlabor” loten Martina Ziegenthaler und Ulrike Tillmann solche Fragestellungen des Werdens und Gedeihens aus, der zyklischen Wiederkehr im Lauf des Lebens und der Veränderungen im und durch den Lauf der Zeit. Dabei kommt dem Faktor Zeit als Maßeinheit allen Lebens ein wichtiges Moment zu: die Zeit als Messlatte für Veränderungen, die sich im Verlauf von Tagen, Wochen, Monaten, Jahren und Jahrhunderten vollzogen haben bzw. in der Zukunft vollziehen werden.
Martina Ziegenthalers raumfüllender Installation liegt thematisch das jahrhundertealte, vorwiegend im europäischen Raum verbreitete Brauchtum des Maibaumaufstellens zugrunde. Schon von alters her wurde der Monat Mai als Beginn des Sommerhalbjahres betrachtet und mit einer großen Feier begangen. Den Kelten galt das Anfang Mai gefeierte Fest Beltane als bedeutendster kultischer Festtag, der alljährlich aus Freude über das Wiedererwachen des Lebens und das Siegen der Sonne und des Sommers über den Winter und den Tod begangen wurde. Vom ursprünglichen Fest des 1. Mai sind heute nur noch folkloristische Bräuche übrig, deren regional unterschiedliche Ausformungen oft auch religiöse oder politische Hintergründe haben können. Seit dem 18. Jahrhundert findet man zunehmend so genannte Figurenmaibäume, d.h. Maibäume, die mit allerlei geschnitzten und bemalten und auf verschiedene Berufe verweisenden Figurengruppen geschmückt sind, mit handwerklichen Zunftzeichen, religiösen Symbolen oder patriotischen Emblemen, oder die mittlerweile sogar Vereinssymbole und Sponsorentafeln tragen können.
In ihrer Installation zeigt Martina Ziegenthaler Objekte, die von der Beschaffung des Baumes aus dem Wald, seiner Entrindung, dem Schmücken, Bewachen, Aufstellen und dem abschließenden Tanz um den Baum erzählen. Die Situation erinnert an ein Lagerhaus, in dem die einzelnen zur Festausübung notwendigen Utensilien aufbewahrt werden. Der geschälte Stamm, die bunten Schmuckbänder, die großen Kränze wie auch die langen Stöcke, mit deren Hilfe der Baum aufgestellt wird alles steht bereit für den großen Augenblick. Und doch stellt sich beim Betrachter ein Irritationsmoment ein: Der Stamm besteht nicht aus Holz, die Kränze sind nicht gebunden und die Stöcke sind ungeeignet für die mit ihnen durchzuführenden Arbeiten. Die Künstlerin spielt mit unserer Wahrnehmung, sie bietet uns statt der Originale lediglich Fälschungen an, aus Stoffen oder Kunstleder gefertigte Fakes, die bewusst die reale Musterung des nachempfundenen Originals aufgreifen. Auch die meist vielteiligen Figurengruppen der Maibäume erfahren eine auffallende Transformation: Als überlebensgroße, locker im Raum verteilte Einzelfiguren repräsentieren sie der Gegenwart entnommene Berufe, zeigen den Einzelhandelskaufmann ebenso wie den Polizisten, den Müllmann wie den Handwerker, die Kellnerin wie die Stewardess. In ihrer nüchternen Typisierung scheinen sie einem Katalog für Berufskleidung entnommen. Hat man sich so die zeitgenössische Form der traditionsreichen Maibaum-Berufsbilder vorzustellen? Dieses Hinterfragen von Sehgewohnheiten, das Abklopfen von Alltagsbildern und -formen auf ihre Gültigkeit ist ein wesentlicher Zug in Martina Ziegenthalers künstlerischem Werk. Dabei bedient sie sich fast ausschließlich textiler Materialien und Techniken. Vom Modefach kommend, das sie von einer Ausbildung zur Schneiderin und anschließend zur Direktrice von der Pike auf gelernt hat, wechselte sie zur Kunst und studierte in den 1990er Jahren an der Nürnberger Kunstakademie bei Hanns Herpich, dessen Meisterschülerin sie war; seit 1999 ist sie freischaffend. Inzwischen entstanden zwei- und dreidimensionale Objekte, die “auf ironische Weise den Versuch” entlarven, “sich durch Ordnung und Dekoration des Alltäglichen im Leben häuslich einzurichten”, wie die Künstlerin selbst den Inhalt vieler ihrer Arbeiten charakterisiert. Dies trifft auch auf ihre Installation “was Brauch ich noch?” zu. Indem sie die überlieferte Formensprache des Maibaumbrauchtums aufgreift, diese jedoch durch die Verwendung untypischer, moderner Materialien sowie die auffallende Veränderung der Größendimensionen verfremdet, macht Martina Ziegenthaler nicht zuletzt deutlich, wie weit sich die heutige Form dieser traditionsreichen Feier von ihrer ursprünglichen Bedeutung entfernt hat.
Ist Martina Ziegenthalers Beschäftigung mit dem Maienbrauch assoziativ mit den Begriffen Sonne, Licht und Wachstum zu verbinden, so könnte man fast versucht sein, die Arbeit von Ulrike Tillmann als deren Widerpart zu bezeichnen. Dunkelheit und Nacht sind hier das Thema. “Nachtlabor” lautet der Titel, den die Künstlerin ihrer Installation gegeben hat. “Nachtlabor”, was genau ist unter dieser Bezeichnung zu verstehen, die sich so in keinem Lexikon finden lässt? Lediglich unter ihrer Einzelbedeutung sind die beiden Wörter aufgeführt. Als “Nacht” wird der Teil eines Tages definiert, der zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang liegt, also die Zeit, in der die Sonne nicht am Himmel steht. Schlägt man unter “Labor” nach, so erfährt man, dass der eigentliche Begriff Laboratorium heißt und vom lateinischen laborare (arbeiten) hergeleitet ist. Als Labor ist heutzutage ein Arbeitsraum im Bereich der Naturwissenschaften zu bezeichnen, eine Arbeits- bzw. Forschungsstätte für wissenschaftliche Versuche. Noch im 16. Jahrhundert bezeichnete ein Laboratorium die Werkstatt eines Alchimisten.
Dunkelheit empfängt den Betrachter, wenn er Ulrike Tillmanns Installation betritt. Schwarze Wände, schwarze Decken, dunkler Boden es ist eine andere Welt, auf die man sich hier einlässt. Schon der Untergrund, auf dem der Besucher sich bewegt, ist anders, weich und nachgiebig. Leise Geräusche sind zu hören, ein Rascheln, Knacken, dazu Schritte, die eigenen und die von anderen. Die tiefe Dunkelheit ringsum wird durchbrochen von Bildern, die klar und weiß auf dem allgegenwärtigen schwarzen Grund stehen, Bilder, die im Stil technischer bzw. wissenschaftlicher Zeichnungen gehalten sind, auf ihre Konturen reduziert, linear, graphisch. Manche stehen fest auf der Wand, andere tauchen langsam aus dem Dunkel auf, um nach kurzer Zeit wieder zu verschwinden und weiteren Motiven Platz zu machen. Thematisch sind die Darstellungen verschiedenen Bereichen zuzuordnen, wir erkennen Sujets aus dem Tierreich ebenso wie aus der Botanik, aus der Medizin genauso wie aus der Kunstgeschichte. Ergänzend zu diesen Bildern tritt das Wort, sind kurze Sätze zu lesen, allesamt Zitate unterschiedlicher Autoren. Beides, die Bilder und die Wörter, umkreisen dasselbe Thema: nämlich das der Dunkelheit und der Nacht. Zwar hat die Künstlerin eine individuell geprägte Auswahl von Symbolen getroffen, die der Nacht, der Liebe, der Sexualität wie auch dem Tod zuzuordnen sind, doch steht diese Auswahl nur beispielhaft für die große Fülle an nächtlichen Bildern, die jeder Einzelne von uns in sich trägt. So gesehen, wird in Ulrike Tillmanns “Nachtlabor” die Nacht selbst zum Laboratorium umgedeutet, in dem unsere Phantasien, Träume, Ängste und Sehnsüchte ungehindert bildhafte Gestalt annehmen können.
Arbeiten mit Wörtern und Satzfragmenten besitzen in Ulrike Tillmanns künstlerischem Werk einen ebenso hohen Stellenwert wie das graphisch-lineare Element in der Wiedergabe gegenständlicher Motive. Beides hat sicher auch seinen Ursprung in ihrer Ausbildung zur Grafikdesignerin, die sie vor ihrem Wechsel zur bildenden Kunst absolviert hat. In den 1990er Jahren studierte sie an der Kunstakademie in Karlsruhe bei Michael Sandle und Hiromi Akiyama. Seit nunmehr vier Jahren ist sie freischaffend in Karlsruhe tätig.
Sylvia Bieber